Grundlegende Forderung für die Bisslagenbestimmung (Bissnahme) sind objektive Maßstäbe und Reproduzierbarkeit. Das Finden der zentrischen Position sollte nicht auf den manuellen, individuell verschiedenen und von unterschiedlichen Faktoren abhängigen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Zahnarztes beruhen. Vielmehr bedarf es objektiver Messmethoden (z. B. AVOSAX), in die ergänzend zur sagittalen und transversalen Bestimmung der Unterkieferposition auch die vertikale Ebene sowie die Muskulatur einbezogen sind.
Seit vielen Jahrzehnten wird über die Thematik der Bissregistrierung geforscht, entwickelt, ausgewertet. Der nachfolgende Artikel soll für die Rolle der Muskulatur sowie der vertikalen Ebene bei der Bestimmung der zentrischen Position sensibilisieren. Die Ausführungen beruhen auf einer Ausarbeitung von C. Schilcher („Die Position des Condylus mandibulare – eine kritische Literaturübersicht“).
Ein historischer Rückblick
- Um 1900 beschreibt Gysi, dass die sogenannten „gotischen Bogen“ die Kieferrelation festlegen.
- McCollum zieht im Jahr 1921 die Scharnierachsen zur Kieferrelationsbestimmung heran.
- Dann folgen zahlreiche Definitionen: Sheppard et al. (1959) favorisieren eine intermediale Lage, in der Kiefergelenk, Zähne und Muskulatur im Gleichgewicht sind.
- Lauritzen et al. (1964) reklamiert die terminale Scharnierachse.
- So geht es weiter 1966/67 (Mühlmann et al.), 1978 (Bauer et al.; Stuart), 1986 (Gerber) – und jedes Mal sind die beteiligten Strukturen unterschiedlich bewertet. Im Mittelpunkt steht aber immer die dominante Bewertung von Kiefergelenk oder Okklusion.
- 1992 definierte die Arbeitsgemeinschaft für Funktionsdiagnostik (AFG) in der DGZMK die Kondylen in der Zentrik als „kranioventrale, nicht seitenverschobene Position beider Kondylen bei physiologischer Kondylus-Diskus-Relation und physiologischer Belastung der beteiligten Gewebe“.
- Türp veröffentlichte 2006 den Beitrag „Vertikale und horizontale Kieferrelation in der rekonstruktiven Zahnmedizin“, in dem er die internationale Literatur kritisch sichtete. Er betrachtet die horizontale und die vertikale Kieferrelation und kommt zum Schluss, dass die zentrische allgemein als die wünschenswerte Position angesehen wird. Allerdings erkennt er: „Das Problem bei der zentrischen Kondylenposition ist, dass man nicht weiß, in welcher Position sich der Kondylus-Diskus-Komplex relativ zu den temporalen Gelenkstrukturen genau befindet“.
Histomorphologische, histochemische und biochemische Vorgänge in der Muskulatur
Beim Sichten der Literatur fällt auf, dass die sagittale und transversale Einstellung des Unterkiefers im Fokus der Aufmerksamkeit steht, während die dritte Ebene – die vertikale – nur marginal betrachtet wird. Sheppard et al. lassen zwar die Muskulatur nicht außer Acht, ebenso wie die Arbeitsgemeinschaft für Funktionsdiagnostik die „beteiligten Gewebe“ verschwommen einbezieht sowie Bumann und Lotzmann (2000) die Kondylenposition als Summe aller muskulären Kraftvektoren darstellen. Trotzdem ist festzuhalten: Die Rolle der Muskulatur und der nervalen Steuerung blieb unter wissenschaftlichen Aspekten bislang unterbewertet.
Basierend auf dieser Erkenntnis befasste sich Mitte der 1980er-Jahre eine Arbeitsgruppe an der Poliklinik für Prothetische Stomatologie der Leipziger Universität* mit dem Verhalten bestimmter Kaumuskeln und Strukturen der Kiefergelenke im Zusammenhang mit dem okklusalen System. Sie erhielten tiefere Einsichten in die komplexen Vorgänge. Die Untersuchungen unter variierender Aufgabenstellung liefen über mehr als zehn Jahre und ergaben ein Fazit:
Den neuromuskulären Komponenten im orofazialen System muss eine hohe Priorität zuerkannt werden. Leistungsfähigkeit (Kauakt) und Sensibilitätsaspekte (Taktilität und Steuerung) werden über das neuromuskuläre System vermittelt.
Zudem konnten Einsichten in das Verhalten von Kiefergelenk-Strukturen gewonnen werden, die eine hohe Bedeutung für den Zahnarzt bei Diagnostik und Therapie haben. Der Forschungskomplex wurde in seiner wissenschaftlichen Anlage von Vogel inauguriert. Aus diesen Forschungen konnten unter anderem wesentliche Aspekte für die Entwicklung des innovativen AVOSAX-System abgeleitet werden.
*in Zusammenarbeit mit den Anatomischen Instituten der Universitäten Leipzig und Rostock sowie dem Institut für Sportmedizin an der DHfK Leipzig